Verhunschlicht

Es passiert im Alltag ziemlich oft, dass ich Henry beobachte und mich frage, zu wieviel Prozent da gerade der „echte“ Henry am Werk ist. Also der unverfälschte Hund, der ganz genau so handelt wie seine Natur, Lust und Laune es ihm in den Sinn bringen. Machen wir uns nichts vor, in bis dato vier gemeinsamen Jahren hat er sich ganz schön vermensch- und ich mich ziemlich verhunschlicht. Aber ist das immer gut? Und vor allem, fühlt es sich immer echt an? (Dieser Beitrag enthält Werbung durch Verlinkung.)

Hunde sind nach zehntausenden (wissenschaftliche Schätzungen variieren zwischen 15.000 und 100.000) Jahren der Domestizierung Meister der Anpassung, während Menschen als biophile Wesen instinktiv an Tieren und der Natur interessiert sind. Immerhin sind wir zoologisch betrachtet selbst Tiere. Außerdem kann das Überleben an sich nur durch die Anpassung an das jeweilige Umfeld gelingen. Dies sind schon mal einige grundsätzliche Fakten, warum wir als Mensch-Hund-Team so gut zusammen funktionieren und harmonieren. Aber wie genau sieht das im Alltag des 21. JahrHUNDerts aus?

Der Canis lupus familiaris (Haushund) muss täglich viele Sachen machen, die eigentlich wider seiner Natur sind.

„Wieso darf ich nicht jagen?“, „Und weshalb ist lautes Bellen nicht angebracht?“, „Und warum zum Teufel soll ich jetzt Sitz machen?“ … Aber er erfüllt (meistens) mit stoischer Gelassenheit unsere Bitten, weil der Hund eben unglaublich kooperativ und verständnisvoll im Umgang mit Menschen ist. Diese tolle Anpassungsfähigkeit führt leicht dazu, dass wir unsere Vierbeiner vermenschlichen. „Wir brauchen keine Angst zu haben, dass wir sie vermenschlichen. Das haben Hunde aufgrund ihrer evolutionären Anpassung an uns schon längst selbst erledigt“, erklärte der Verhaltensbiologe Kurt Kotrschal im Interview mit dem DOGS-Magazin.

Verhunschlicht

Im täglichen Zusammenleben ist die Vermenschlichung des Hundes unausweichlich.

„Wie fühlt er sich gerade?“ ist ein typischer Gedanke den wir über unseren Hund hegen, und uns meist anhand ziemlich menschlicher Gemütslagen zu beantworten versuchen. Andersherum bemüht sich der Vierbeiner ebenfalls, seine Menschen ganz genau zu lesen und wenigstens ansatzweise zu verstehen, warum wir manchmal echt komisch drauf sind. So kommunizieren wir munter hin und her und passen uns dabei – auch unterbewusst – aneinander an.

Nicht umsonst heißt es „Hunde sind das Spiegelbild ihrer Halter“. Deshalb frage ich mich zum Beispiel häufig, ob Henry auch durch mich so ein ernster Professor ist, oder ob er ohne mein Zutun vielleicht ein verrückter Flausenkopf geworden wäre? Welchen Einfluss hätte es auf sein Wesen gehabt, wenn er nicht seit dem Welpenalter das disziplinierte Bürohund-Leben führen müsste, sondern ein munterer Familien-Vierbeiner geworden wäre? Wahrscheinlich ist er so ein ruhiger und geduldiger Geselle geworden, weil es sich so einfach besser mit mir bei der Arbeit aushalten lässt.

Ganz sicher formen auch individuelle Charakterzüge das Gesamtpaket.

Und es kommt darauf an, wie empathisch Mensch und Hund miteinander sind. Obwohl ich mich über jeden netten Hundekontakt für Henry freue, und gern auch länger zum Klönen und Vierbeiner beobachten stehen bleibe, pflanzt sich der Herr tatsächlich meistens wie selbstverständlich zu uns Zweibeinern und schaut den anderen Hunden beim Spielen zu – was das angeht, ist mir Henry tatsächlich zu vermenschlicht. Laut angebellt zu werden, ist für ihn ebenfalls ein No-Go und wird mit völliger Ignoranz des anderen Vierbeiners bestraft (das hat Henry schließlich so in der Hundeschule gelernt: ungewünschtes Verhalten ignorieren).

Ganz schlimm wird es, wen ihm ein anderer Hund sein Spielzeug präsentiert und dabei lustig hin und her springt. Dann guckt mich Henry an und zieht die Augenbrauen hoch, als würde er fragen: „Erwartest du ernsthaft, dass ich mich auf dieses Niveau herablasse?“ … Manchmal wünsche ich mir weniger Ernsthaftigkeit an meinem Hund – aber ich kriege den Menschen einfach nicht aus ihm raus!

Verhunschlicht

Andererseits bin ich durch Henry echt gut im geduckten Anschleichen geworden, kraule mit meinen Fingern fast so schön wie mit Hundezähnen und kann wenn es drauf ankommt relativ beeindruckend knurren. Ja, er hat mich verhunschlicht. Ich kann es oft nicht unterdrücken, auch wenn andere Spaziergänger mich für bescheuert halten. Bei Menschen ist es doch so, dass wir häufig die Körpersprache unseres Gegenübers kopieren – und wenn das Gegenüber 365×24 Stunden ein Hund ist, kann es schon mal passieren dass man auf den Knien und mit hoch erhobenem Hintern im Vorgarten zum Spiel auffordert!

Entscheidend ist, dass bei allen Gemeinsamkeiten die essentiellen Bedürfnisse des Hundes nicht an Wichtigkeit verlieren.

Ein Hund braucht täglich ausreichend Zeit und Möglichkeiten, seinen tierischen Interessen nachzugehen. Wenn er genügend Raum zum schnüffeln, laufen und raufen mit Artgenossen hat, wird er diese in dem Umfang nutzen wie es wichtig für ihn ist. Ich habe eine Weile gebraucht um zu akzeptieren, dass Henry generell nicht das größte Interesse an Hundespielen hat. Er stromert einfach lieber ungestört mit mir durch den Wald und ist glücklich wenn er mir beim Dummytraining zeigen kann, was er drauf hat. „Für den Hund sind Zuwendung, Nähe und gemeinsames Erleben elementar“, so Kurt Kotrschal.

Am Ende ist es wahrscheinlich auch so: Ich bin zu 50 % Henry und Henry ist zu 50 % ich. Zusammen sind wir 100 % – und das fühlt sich ziemlich echt an!

Wie sieht es bei euch aus, seid ihr auch „verhunschlicht“?

Eure

Stefie-Sign

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